KULTUR und  LEBEN
PLATTFORM ZUM WEITERDENKEN


Leben

Reden wir an dieser Stelle ein wenig über das Leben, über unsere Gesellschaft und Zukunft, über drei grundsätzliche Fragen, die wir uns stellen müssen: Ist alles tatsächlich so wie es auf den ersten Blick scheint? Was könnte sich aus dem, was heute bereits rund um uns erkennbar ist, entwickeln, in unserem Leben bevorstehen? Wie kann ich, soll ich mein Leben gestalten? Hier finden sich Denkanstöße, keine Lehrmeinungen, keine Feststellungen aus Expertenwissen heraus, sondern ganz einfach Beiträge, die zum Nach- und Weiterdenken anregen sollen.


29.01.2021

Besser als nix

Das Gejammer Mancher über die durch die Pandemie immer wieder und auch lange Zeit eingeschränkten Möglichkeiten, das „normale“, gewohnte Leben so zu leben, wie es vor einem Jahr noch möglich war, führt zu nichts und ist in manchen Darstellungen sogar ärgerlich. Also reden wir auch an dieser Stelle über die Kultur, wie es dem Leitmotiv meiner Seite KULTURundLEBEN entspricht. Denn Kultur ist Leben und Leben sollte eigentlich auch Kultur sein.

Und da muss man zuallererst über die Fähigkeit zur Adaption reflektieren, also über jenen Faktor, der uns Menschen im Laufe der Evolution begleitet. Diese Anpassungsfähigkeit an sich verändernde oder wechselnde Lebensumstände sichert uns – und ebenso allen anderen Lebewesen unserer Welt – das Überleben. Im Großen wie im Kleinen – also im Alltag. Und wer sich nicht rechtzeitig an geänderte Gegebenheiten anpasst, dem droht Ungemach. Im Großen hat das schon zu solchen Katastrophen geführt, wie sie einst der deutsche Dichter Joseph Victor von Scheffel in seinem Gedicht „Der Ichthyosaurus“ über den Untergang der Dinosaurier beschrieben hat: „Es starb zu derselbigen Stunde
die ganze Saurierei, sie kamen zu tief in die Kreide, da war es natürlich vorbei.“

So einfach, laut dem Dichter, und wissenschaftlich nicht wirklich so belegt. Aber das ist eben eines der kreativen Kennzeichen von Literatur, darstellender und bildender Kunst und damit sind wir in unseren Gedanken bei den Kulturschaffenden und in der Pandemiezeit angelangt. Dieser Bereich des Lebens sieht sich seit Monaten in eine tiefe Krise gestürzt. Museen, Theater, Oper, Performance, Kabaretts. Das brauche ich nicht näher erläutern – Kulturinteressierte wissen das. Vor nunmehr knapp einem Jahr dachten Viele, diese Lockdown-Situation werde bald wieder vorbei sein. Ein kulturelles Erdbeben, nach dem die Aufräumarbeiten schnell wieder beginnen könnten. Doch man rechnete nicht mit den Nachbeben (die eigentlich absehbar waren, wenn man auf vergangene Zeiten und Epidemien Rückschau hielt).

Und nun geschah etwas Interessantes: Die Kulturschaffenden und Kulturbetreiber begannen step by step die uns natürlich gegebene Fähigkeit des Adaptierens zu nützen. Streaming-Angebote der Bühnen und virtuelle Museumsrundgänge wurden von immer mehr Veranstaltern angeboten. Demgegenüber verharrte das angeblich so an Kulturellem interessierte Publikum lange Zeit abseits dieser neuen Möglichkeiten. Lag es an der Schwierigkeit der oft an Lebensjahren sehr fortgeschrittenen Kulturliebhaber oder ganz einfach daran, dass Kultur von einem Teil der Besucher nur als „Pflichtaufgabe, weil’s einfach zu Status und Prestige gehört“ (etwa in die Oper oder ins Konzert zu gehen) „konsumiert“ wird? Sie bleiben den angebotenen Internet-Möglichkeiten also fern – wozu sich dort einklinken, das Gesehen-werden und der Pausen-Champagner fallen ohnehin weg.

Bleiben also die „echt Interessierten“. Jetzt kann man spekulieren: Sind diese nicht für die Bühnen und Museen die wertvollere Klientel – wenn es nur nicht Tatsache wäre, dass die „Weil’s-dazu-gehört“-Besucher einfach mehr Geld in die Kasse bringen. Jedenfalls hat sich – und das ist die gute Nachricht – mittlerweile (vor allem in Deutschland) eine richtige Streaming-Szene entwickelt. Eine respektable Anzahl renommierter Theater-, Tanz- und Performance-Bühnen bietet Streams von Premieren und Live-Aufführungen vor leeren Sitzreihen an – mittlerweile wird so viel geboten, dass an manchen Tagen die Wahl schwerfällt, was man sich ansehen soll. Was ich gut finde: Meist findet die (Internet-) Aufführung nur zur festgesetzten Zeit statt – wie ein realer Theaterbesuch. Ein Live-Erlebnis (selten werden vorproduzierte Filme von Generalproben oder älteren Inszenierungen über 24 Stunden oder mehrere Tage im Streaming angeboten).

Zuletzt waren übrigens gestern beim Streaming des Zürcher Schauspielhauses (eine bemerkenswerte Inszenierung von John Steinbecks „Früchte des Zorns“) bis zu 270 Zuseher dabei. Und die Live-Aufführung „Niemand wartet auf dich“ aus dem Münchner Residenztheater mit der alle Register ihres Könnens ziehenden Juliane Köhler war gleich mehrmals ausverkauft, es wurden deshalb zwei weitere Live-Veranstaltungen nachgeschoben, die ebenfalls sofort nach Bekanntgabe ausverkauft waren. Übrigens, ein Hinweis an „Groscherlreiter“: Die Streaming-Tickets kosten, wenn sie nicht überhaupt kostenlos sind, zwischen 5 und 15 Euro. Und höher, wenn man dem Theater noch helfen will – denn dass Streaming nicht kostendeckend sein kann, ist wohl Jedem klar. Sie sind also deutlich billiger als eine „echte“ Theaterkarte.

Fazit: Es geht doch, das Erlebnis Kultur zu befriedigen. Natürlich ist’s nicht dasselbe wie in der ersten Reihe vor der Bühne sitzend. Aber es ist besser als nix. Und es hilft den Kulturschaffenden (die das tun können, was ihr Lebensinhalt ist), den Bühnen (mit denen der Kontakt nicht verloren geht) und dem wirklich kulturinteressierten Publikum (das seine Lust an Kultur befriedigen kann). Und noch etwas: Man sieht Aufführungen, zu denen man sonst in diesen Lockdown-Zeiten keine Besuchsmöglichkeit hätte – etwa zuletzt vom Hamburger Schauspielhaus gestreamt Elfriede Jelineks „Am Königsweg“ in der schrillen und bejubelten Inszenierung von Falk Richter.

Ich selbst bin jetzt als emsiger Theaterbesucher seit einiger Zeit, seitdem wir uns nämlich damit abfinden müssen, dass wir auf gewohnte Theaterbesuche im eigenen Land und vor allem im Ausland wohl noch auf absehbare Sicht verzichten müssen, ein- bis zweimal pro Woche im (Internet-)Theater. Wie gesagt: Besser als nix und noch mit dem Vorteil der geografischen Diversität ausgestattet.

Mein Plädoyer fürs kulturelle Adaptieren in Pandemiezeiten möchte ich enden mit einem Tipp: Die Berliner Schaubühne streamt vom 5. bis 8. Februar die Aufzeichnung einer sensationellen Inszenierung aus dem Jahr 2010, die man nicht verpassen darf: „Dämonen“ vom kürzlich verstorbenen Lars Norén in hinreißender Besetzung, unter anderem mit dem heutigen Schauspiel-Superstar Lars Eidinger. Ich seh‘ sie mir jedenfalls nochmals an.

gerfri - 10:49 @