KULTUR und  LEBEN
PLATTFORM ZUM WEITERDENKEN


Leben

Reden wir an dieser Stelle ein wenig über das Leben, über unsere Gesellschaft und Zukunft, über drei grundsätzliche Fragen, die wir uns stellen müssen: Ist alles tatsächlich so wie es auf den ersten Blick scheint? Was könnte sich aus dem, was heute bereits rund um uns erkennbar ist, entwickeln, in unserem Leben bevorstehen? Wie kann ich, soll ich mein Leben gestalten? Hier finden sich Denkanstöße, keine Lehrmeinungen, keine Feststellungen aus Expertenwissen heraus, sondern ganz einfach Beiträge, die zum Nach- und Weiterdenken anregen sollen.


22.12.2020

Polarisierende Pandemie

Ein paar Gedanken zum Jahreswechsel und nach neun Monaten Covid-19-Pandemie, Lockdowns und der Unsicherheit, was Virus-Mutation und Impfstoff-Zulassung bewirken können und wie es im kommenden Jahr weitergehen wird.

Der immer wieder erzwungene Rückzug auf das engste eigene Umfeld mündete leider schnell in einer neuen Polarisierung unserer Gesellschaft: Hier diejenigen, die sich im Homeoffice neu zu arrangieren hatten und im Stress zwischen Videomeetings, Telefonkonferenzen und familiärem Alltag noch mehr gefordert wurden – dort diejenigen, die plötzlich aus dem Arbeitsleben in eine unerwartete Ruhe- und bestenfalls Wartesituation geworfen wurden, die nach erstem Wohlgefühl schon bald unerträglich wurde. Denn wenn Denker der Antike, wie Aristoteles oder Cicero, ihr Loblied auf die schöpferische Kraft der Muße gesungen haben, so können wohl nur wenige in dieser Pandemie der „würdevollen Muße“ (© Cicero: „otium cum dignitate“) etwas abgewinnen – auch wenn Politiker gerne das Wort „würdevoll“ (etwa jetzt in Zusammenhang mit Weihnachten) als Zuckerbrot vor der Peitsche der nächsten Probleme für die Gesellschaft verwenden.

Anmerkung: Als „Probleme“ bezeichne ich unter anderem die absehbaren Insolvenzen etlicher Unternehmen (die vorerst noch mit finanziellen Stützungen über Wasser gehalten werden), die vorhersehbare steigende Zahl der Arbeitslosen in wenigen Monaten und die Milliardenschulden, die jetzt gemacht werden und in nicht zu ferner Zukunft zurückzuzahlen sind.

Polarisierung 2: Einerseits die „Risikogruppe“, jene „besonders vulnerablen“ Menschen, die geschützt werden sollen und müssen, vielleicht auch, damit sie nicht noch mehr Kosten verursachen als schon jetzt durch ihre Pensionen und „normalen“ Krankenhausaufenthalte? Andererseits die Gruppe der Verschwörungs-Follower, der „Um-keinen-Preis-Masken-Träger“ (um welchen Preis? Jenen der eigenen Gesundheit oder um den Preis „ohnehin“ nur der Gesundheit der Mitmenschen – wobei dieser Preis eben im Zeitalter der Egomanie ihrer Einstellung nach eh keine Rolle spielt). Die Symbiose dieser Corona-Leugner mit dem Rechtspopulismus, der – entgegen seines üblichen Hochhaltens von bedingungsloser Autorität und diktatorisch vorgegebener Disziplin – plötzlich die Freiheit des Einzelnen entdeckt hat, erzeugt einen größeren gesellschaftlichen Sprengsatz mit weitreichender langfristiger Wirkung als es für den Augenblick scheinen mag.

Diese Gedanken zur Polarisierung der Gesellschaft sollen ein wenig Realismus in die überbordenden Zukunftsparolen der Politik bringen, einer Politik, die viel zu wenig Platz lässt der medizinischen und wissenschaftlichen Vernunft-Expertise gegenüber dem Drang wirtschaftlicher Lobbys, die allerorten ohnedies mit Milliarden-Geldspritzen versorgt werden, um wirtschaftliches Funktionieren und – natürlich richtigerweise – Arbeitsplätze zu erhalten, deren Weiterbestand etwa in Jahresfrist jedoch in einem nicht geringen Teil der Fälle, wie erwähnt, fraglich ist.

Ja, und noch eine Polarisierung gibt es: Vernunft gegen Laissez-faire. Oder wie es der Berliner Bürgermeister angesichts der vorweihnachtlichen Einkaufslawine an den „freigegebenen“ Tagen ausdrückte: Wieviel Tote ist uns ein Shopping-Erlebnis wert?

„Verkauft’s mei G’wand, i fahr‘ in Himmel“ hat einst der Volksdichter Ferdinand Sauter gedichtet, der 1854 Opfer der Cholera-Epidemie in Wien wurde. Heute scheint es für manche anders zu lauten: „I kauf G’wand, sollen andere dafür in‘ Himmel fahr’n“.

Heißt aber für jeden Denkenden: Muss in Pandemie-Zeiten „ein bissel brav sein“ (© Österreichs Lieblings-Kaiser Robert Palfrader) wirklich unbedingt gleichzusetzen sein mit Verlust der Lebensfreude? Und: Haben wir ach so klugen Super-Primaten nicht die Pflicht, nicht nur unseren Verstand einzusetzen, sondern auch unser Herz, unsere soziale Natur? Im ganz persönlichen Kampf gegen die Polarisierung unserer Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen, die uns in diesen Wochen durch die Ausnahmesituation so deutlich gemacht wird.

gerfri - 14:40 @