KULTUR und  LEBEN
PLATTFORM ZUM WEITERDENKEN


Leben

Reden wir an dieser Stelle ein wenig über das Leben, über unsere Gesellschaft und Zukunft, über drei grundsätzliche Fragen, die wir uns stellen müssen: Ist alles tatsächlich so wie es auf den ersten Blick scheint? Was könnte sich aus dem, was heute bereits rund um uns erkennbar ist, entwickeln, in unserem Leben bevorstehen? Wie kann ich, soll ich mein Leben gestalten? Hier finden sich Denkanstöße, keine Lehrmeinungen, keine Feststellungen aus Expertenwissen heraus, sondern ganz einfach Beiträge, die zum Nach- und Weiterdenken anregen sollen.


25.11.2020

Eigenverantwortung - ein Zwischenruf

Immer wieder diese Eigenverantwortung. Wenn die Politik (oder auch das Management eines Unternehmens) nicht mehr weiterweiß, dann wird an die „Eigenverantwortung der Menschen“ (Wahlvolk, Mitarbeiter) appelliert.

Bleiben wir angesichts der derzeitigen (Pandemie-) Situation jedoch allein bei der Politik. Überall in Europa das gleiche Bild: Hohe Infektionszahlen (übrigens: In Österreich sind sie, berechnet auf 100.000 Einwohner, nach wie vor am höchsten überhaupt), zum Teil dramatische Belegungen der Intensivstationen, schreckliche Todeszahlen – und der Ausgleich zwischen Gesundheit und Wirtschaft, zwischen Menschlichkeit und ökonomischer Notwendigkeit, gelingt nicht oder nur schlecht. Also: der Ruf nach der Eigenverantwortung. Gerichtet an „die Bevölkerung“.

Ja, gut: Es gibt einen gewissen Prozentsatz von Unbelehrbaren. Sonst jedoch haben’s eh schon die Meisten begriffen. Aber – und jetzt komme ich zum Kern meines Zwischenrufs – wie sieht’s eigentlich mit den Teilen der Bevölkerung aus, die sich so gerne als verantwortliche Lenker der Wirtschaft präsentieren? Also den Leuten an den Schalthebeln der Wirtschaft? 
 
Ein Einschub, vor dem Weiterlesen: Ich bin sicher nicht wirtschaftsfeindlich – nicht zuletzt als früherer Wirtschaftsredakteur –, aber genau als dieser wirtschaftskritisch. Nicht alles ist so super, wie es dargestellt wird. Und das wird man noch sagen dürfen.

Also: Die Wirtschaft, vor allem die Klein- und Einzelunternehmen und die Start-ups hat die Corona-Infektion schwer erwischt (ebenso übrigens wie den ganzen Kulturbetrieb, aber das ist eine andere Geschichte…). Da gibt es unter den initiativen Firmengründern und Unternehmern Schicksale, die unsereins nicht teilen möchte. Doch „in der Wirtschaft“ gibt es auch die Funktionäre und dickköpfigen Wirtschaftsvertreter, die egozentrierten Unternehmer, die schlichten Gemüter, die nicht über ihr Alpental oder übers nächste halbe Jahr hinausdenken (wollen). Und an denen geht der Appell an die Eigenverantwortung offenbar spurlos vorbei. Gemeinwohl – was ist das, lautet da, so scheint’s, die Devise, denn der Eigennutz ist der stärkste Motivator dieser „Verantwortlichen“, bei denen das Präfix „Eigen“ leider fehlt. Aufsperren, Weitermachen (um jeden Preis) statt Vernunft.

Ja, ja, ich bin ja nicht naiv. Natürlich geht’s darum, dass ohne funktionierende Wirtschaft die Arbeitsplätze verloren gehen, die Möglichkeit des Staates zum Erhalt seiner Gesellschaft eingeschränkt wird (Stichworte: Sozialsystem, Gesundheitssystem, Bildungssystem). Aber wo liegt die Latte des Ausgleichs zwischen Ökonomie und Gesundheit, wie hoch ist der gesellschaftliche Preis dafür anzusetzen – der Preis nämlich in Toten, langfristig Pflegebedürftigen oder sogar auch, um den Wirtschaftsbereich einzubeziehen: der Preis für nachhaltige Schäden des Tourismus, über den derzeit so gerne geredet wird, durch langfristig ausbleibende Gäste, wenn einfach nur kurzfristig, engstirnig gedacht wird.

Wir werden nach dem Abschwellen der Pandemie-Krise nächstes, übernächstes Jahr eine Vielzahl an wirtschaftlichen und sozialen Folgeschäden erleben – darüber redet derzeit noch niemand gerne. Wenn erst einmal die Hilfsgelder aufgebraucht sind und gestoppt werden, wenn Arbeitsplätze verloren gehen werden, wenn dann Konsumlust und Kaufkraft naturgemäß sinken – dann werden Viele den Versäumnissen der Eigenverantwortung nachtrauern. Dann ist’s zu spät, jetzt wär’s höchste Zeit, eigenverantwortlich und mit Blick auf das Später, das Nachher zu agieren.

gerfri - 11:53 @