KULTUR und  LEBEN
PLATTFORM ZUM WEITERDENKEN


Leben

Reden wir an dieser Stelle ein wenig über das Leben, über unsere Gesellschaft und Zukunft, über drei grundsätzliche Fragen, die wir uns stellen müssen: Ist alles tatsächlich so wie es auf den ersten Blick scheint? Was könnte sich aus dem, was heute bereits rund um uns erkennbar ist, entwickeln, in unserem Leben bevorstehen? Wie kann ich, soll ich mein Leben gestalten? Hier finden sich Denkanstöße, keine Lehrmeinungen, keine Feststellungen aus Expertenwissen heraus, sondern ganz einfach Beiträge, die zum Nach- und Weiterdenken anregen sollen.


18.10.2020

Ego vs. Gemeinsamkeit

Es ist offensichtlich: Wir leben in einer Zeit, in der „das Gemeinsame“ schlechte Karten hat. Denn: Je größer der gesellschaftliche und wirtschaftliche Druck, desto größer der Rückzug ins Ego. Das nicht zuletzt und verstärkt durch eine Virus-Pandemie, die Staaten und Gesellschaften in eine ungewisse Zukunft führt.

In immer stärkerem Ausmaß wirken sich die Anforderungen und Mechanismen unseres Lebens aus. Wir sind eben längst eine „Ellbogen-Gesellschaft“ geworden. Das Ich vor dem Du, der Anspruch des Eigenen vor dem Sozialen. Wer nicht vor dem Anderen da ist, und wenn auch mit unrechten Mitteln, hat eben verloren. Das gesellschaftliche Umfeld tut ein Übriges. Denn die Polarisierung unserer Gesellschaft lässt die Spannungen wachsen. Die Kluft gegenüber Randgruppen und Minderheiten, zwischen Reich und Arm wird größer. Da bleibt das Miteinander auf der Strecke. Die Aggression ist nicht nur spürbar, sind äußert sich mehr und mehr unverhohlen öffentlich – gegen alles, was die eigene Freiheit einschränkt. Auch wenn das gegen die Vernunft ist, werden Ratschläge in den Wind geschlagen, Verordnungen missachtet und Jene, die Andere gegen Unvernunft und Gefahr schützen sollten, angegriffen.
 
Das Problem liegt tiefer. Denn die nachrückende Generation sieht sich, abgesehen von den einengenden Umständen der Corona-Pandemie, ohnedies schon lange mit der Entwicklung in Wirtschaft, Ausbildung und Arbeitsumfeld konfrontiert, die neues Verhalten erzeugt hat. Jene Generation, die sich mit ego-orientierter Härte durchzusetzen hat, wenn es um die Lehrstelle oder den Studienplatz geht, wenn es darum geht, überhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen, muss dieses Zusammenspiel von Ego und Ellbogen leben, um nicht rausgespült zu werden. Ist es da verwunderlich, dass der Anteil der Singles unter den 25- bis 35jährigen steigt? Das Sich-selbst-organisieren, Nur-für-sich-verantwortlich-sein und Tun-und-lassen-können, was man selbst will, ist die Freiheit. Das Zusammenleben zwischen Partnern, Freunden, Nachbarn, Kollegen scheint schwierig. Unsere Gesellschaft wird unduldsamer.

Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa hat bereits vor Jahren diagnostiziert, dass diese Entwicklung zu einer umfassenden Störung im Weltverhältnis der Menschen führt – zur Entfremdung. Es entsteht ein Zustand, erklärt Rosa, „in dem man das Gefühl hat, dass die Menschen, mit denen man umgeht, und die Dinge, mit denen man es zu tun hat, nicht mehr antworten, so dass man in einer stummen oder sogar feindlichen Welt nur noch kalt kooperiert.“ Die das nicht aushalten, flüchten in die virtuelle Welt von Internet und manche überhaupt in Drogen. Die anderen pflegen ihr Ego.

Lässt sich in solch einer Welt „Gemeinsamkeit“ leben, zurückgewinnen?

Das gemeinsame Tun. Miteinander denken, handeln – leben. Zusammenstehen. Zusammenhalten. Einstehen für den Anderen. Also diese alten Werte…

Ja, doch. Initiativen stellen sich dem Trend entgegen. Menschen suchen das Gemeinsame. Wo keine Barrieren von Rang und Geld mehr gelten, gilt es oft nur noch, die Sprachbarrieren zu überwinden. Gut, dass es Unermüdliche gibt, die Gemeinsames wollen. Sie sind heute so nötig wie schon lange nicht. Vielleicht: Idealisten.

gerfri - 15:07 @