KULTUR und  LEBEN
PLATTFORM ZUM WEITERDENKEN


Leben

Reden wir an dieser Stelle ein wenig über das Leben, über unsere Gesellschaft und Zukunft, über drei grundsätzliche Fragen, die wir uns stellen müssen: Ist alles tatsächlich so wie es auf den ersten Blick scheint? Was könnte sich aus dem, was heute bereits rund um uns erkennbar ist, entwickeln, in unserem Leben bevorstehen? Wie kann ich, soll ich mein Leben gestalten? Hier finden sich Denkanstöße, keine Lehrmeinungen, keine Feststellungen aus Expertenwissen heraus, sondern ganz einfach Beiträge, die zum Nach- und Weiterdenken anregen sollen.


15.03.2020

Infektionstsunami

„Die persönlichen Sorgen standen auch weiterhin im Vordergrund. Noch niemand hatte die Krankheit wirklich akzeptiert. Die meisten waren vor allem empfindlich für das, was ihre Gewohnheiten störte oder ihren Interessen schadete. Darüber waren sie gereizt oder verärgert.“

Aus dem Roman „Die Pest“ von Albert Camus. Camus beschrieb mit seinem erfolgreichsten Werk, wie sich eine Katastrophe auf die Menschen auswirkt. Ein Klassiker, zeitlos, allgemeingültig.

Denn bei weitem nicht zum ersten Mal wird unsere Gesellschaft in diesen Wochen von einem Krankheitstsunami überrollt – und immer wieder kann man gleichartige Abläufe feststellen. Epidemie, Pandemie – diese eingängigen Begriffe beschreiben nur einen Teil der Auswirkung, den medizinischen. Dass sich hier Umwälzungen in der Gesellschaft, Neuorientierungen in der Wirtschaft und dazu politische Veränderungen ergeben – das sind die Langzeitwirkungen, die aus Beispielen der Geschichte ablesbar sind:

- Die Attische Seuche (430-426 v.Chr.) kostete an die 100.000 Bewohnern Athens und damit mehr als einem Viertel der Bevölkerung das Leben, führte zur Niederlage Athens gegen Sparta und zum Niedergang der klassischen griechischen Kultur.
- Im 6. bis 8. Jahrhundert starb im Byzantinischen Reich durch die Justinianische Pest die Hälfte der Bevölkerung, der damit verbundene wirtschaftliche Niedergang bahnte in der Region in der Folge dem Islam den Weg.
- In der Mitte des 14. Jahrhunderts kostete die Pest rund 25 Millionen Menschen, einem Drittel der europäischen Bevölkerung, das Leben und verursachte durch den Verlust an Arbeitskräften und Soldaten den Untergang des Rittertums.

Noch mehr Opfer (nach neuen Forschungen bis zu 50 Millionen Menschen) forderte übrigens 1918/19 die Spanische Grippe. Ihre Besonderheit war – im Gegensatz zur gegenwärtigen Coronavirus-Infektion –, dass ihr vor allem 20- bis 40-jährige Menschen erlagen. Sie war zwar die größte der Grippe-Pandemien seit Ende des 19. Jahrhunderts, aber nicht die einzige: Die Russische Grippe (zweimal), die Asiatische Grippe und die Hongkong-Grippe töteten insgesamt mehrere Millionen Menschen. Und dazu im selben Zeitraum noch Pest, Cholera, Ebola, HIV, Dengue, SARS und einige andere Epidemien, ganz zu schweigen von Infektionen durch Malaria, Masern oder Typhus.

Und die Menschheit lebt dennoch. Wird aber im 21. Jahrhundert gut daran tun, verantwortungsvoll mit sich und den anderen umzugehen, um die Katastrophe möglichst gering zu halten. Ansätze durch von der Politik getroffene Maßnahmen lassen hoffen.

Nochmals Camus, der zum Verlauf der Pest-Epidemie in Oran schrieb: „So konnte man sehen, wie der Verkehr allmählich abnahm, bis er nahezu ganz zum Erliegen kam, wie Luxusgeschäfte von einem Tag auf den anderen schlossen und andere Läden Listen von nicht Lieferbarem in ihren Schaufenstern aufstellten, während vor ihren Türen Schlangen von Käufern standen.“

Und als die Pest die mittlerweile abgeriegelte Stadt Oran immer mehr in ihre Gewalt nahm: „Während die einen weiter dahinlebten und sich dem Eingesperrtsein anpassten, waren andere von da an nur noch von dem Gedanken beherrscht, aus diesem Gefängnis zu fliehen.“

Schließlich, auf dem Höhepunkt der Epidemie: „Als Beispiel kann man den maßlosen Gebrauch anführen, den unsere Mitbürger von Prophezeiungen machten. Im Frühjahr hatte man nämlich das Ende der Krankheit von einem Augenblick auf den anderen erwartet, und niemand kam auf den Gedanken, andere nach genaueren Einzelheiten über die Dauer der Epidemie zu fragen, da ja jeder sich einredete, sie werde keine haben. Aber mit dem Vergehen der Tage begann man zu fürchten, das Unheil werde wirklich kein Ende haben, und damit wurde das Aufhören der Epidemie zum Gegenstand aller Hoffnungen.“

Aber der französische Nobelpreisträger endete seinen 1947 erschienenen Roman mit der Feststellung, der Bericht sei geschrieben, „um einfach zusagen, was man in Plagen lernt, nämlich dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt“.

Ich möchte hinzufügen: …Und dass es Zuversicht gibt – in den Willen des Menschen, in seine Möglichkeiten und in seine Vernunft.

gerfri - 09:53 @