KULTUR und  LEBEN
PLATTFORM ZUM WEITERDENKEN


Leben

Reden wir an dieser Stelle ein wenig über das Leben, über unsere Gesellschaft und Zukunft, über drei grundsätzliche Fragen, die wir uns stellen müssen: Ist alles tatsächlich so wie es auf den ersten Blick scheint? Was könnte sich aus dem, was heute bereits rund um uns erkennbar ist, entwickeln, in unserem Leben bevorstehen? Wie kann ich, soll ich mein Leben gestalten? Hier finden sich Denkanstöße, keine Lehrmeinungen, keine Feststellungen aus Expertenwissen heraus, sondern ganz einfach Beiträge, die zum Nach- und Weiterdenken anregen sollen.


31.03.2021

Streaming – Plädoyer für die neue Form

Nachschlag zu einer spannenden Nach-dem-Stück-Theaterdiskussion nach einer – wieder nur leider – Streaming-Inszenierung. Diesmal aus dem Deutschen Theater Berlin: „Die Pest“, nach Albert Camus, ein Monolog, dargestellt vom DT-Ensemblemitglied Božidar Kocevski. Und wie (!) dargestellt, inszeniert. Beginnend im Gehen auf der Straße, auf einer Straße, bis man merkt, man nähert sich im Hier und Heute dem Eingang ins DT – und dann Rundgang durch das leere Haus mit seinen drei Spielstätten und unzähligen Nebenräumen. Das alles mit dem Text von Albert Camus über die Pestepidemie im algerischen Oran.

Nun muss man wissen: Premiere der Inszenierung war im November 2019, als von einer Covid-19-Pandemie noch keine Rede war, im kleinsten Spielraum des DT, in der Box. Und jetzt, in Zeiten von besorgniserregenden Infektionszahlen, dieser gegenwärtige Blick auf den vor einem dreiviertel Jahrhundert geschriebenen Text, dargestellt im Schlendern durch die leeren Gänge und Sitzreihen des Theaters von einem energiegeladenen, kraftvollen Erzähler, der in Dialogen hin-und herspringt und im Erzählen die Brücke zwischen Camus‘ gesellschaftspolitischem Text und einer allgegenwärtigen Seuchensituation offenlegt.

Und da sind wir bei einem Thema angelegt, das Regisseure, Dramaturgen und SchauspielerInnen, nicht zuletzt aber auch das Publikum, in Lockdown-Zeiten immer mehr beschäftigt, je länger dieser Ausnahmezustand des Kulturlebens andauert: Wie gehen Theaterschaffende und Theaterinteressierte mit dem „Ersatzangebot“ Streaming um? Ein Thema, das auch die Nachbetrachtung zum Stück beherrschte. Und im Videomeeting sehr unterschiedliche Diskussionsbeiträge hervorrief – nicht nur unter den drei Theaterleuten Božidar Kocevski, dem Regisseur András Dömötör und dem Dramaturgen Claus Caesar, sondern auch in den Chatmeldungen und-fragen. Die Bandbreite: Von „Hauptsache, es wird Theater gezeigt“ über „Hier kann man besser als auf billigeren Plätzen die Intensität einer Inszenierung erleben“ bis zum meiner Meinung nach Entscheidenden: „Solch eine Streaming-Inszenierung ist doch etwas ganz anderes als ‚normales‘ Theater.“ Wenn es, muss man hinzufügen, nicht bloß die Wiedergabe der TV-Aufzeichnung einer Aufführung ist, sondern eine eigens für Streaming entwickelte Inszenierung. Wie im Falle der „Pest“ vom DT.

Jene unter den rund 300 am Streaming Teilnehmenden, die zuvor bereits die Inszenierung in der Box gesehen hatten, stellten fest: Da gab‘s nun etwas völlig Unterschiedliches zu sehen – nicht nur was die Form betrifft, sondern auch wie der Inhalt wiedergespiegelt wird. Hier hat man am Deutschen Theater, hat Protagonist Božidar Kocevski Kreativität walten lassen und sich völlig von der ursprünglichen Bühneninszenierung verabschiedet. Ein Musterbeispiel, was das in der kulturellen Not der Pandemie erfundene Streaming-Theaterangebot kann: Sich nämlich als neue Darstellungsform zu etablieren, nicht als Notlösung für eine nicht mögliche Aufführung vor Publikum.

Ich habe in den letzten Monaten viele Inszenierungen im deutschen Sprachraum via Streaming gesehen. Einige waren mit zum Teil kunstvoller Kameratechnik aufgenommene Bühneninszenierungen: Etwa „Shockheaded Peter“ und „Der Geizige“ vom Hamburger Thalia-Theater oder „Niemand wartet auf dich“ mit Juliane Köhler vom Münchner Residenztheater. (Über die meist in Kooperation mit Fernsehanstalten ausgestrahlten Stücke will ich in diesem Zusammenhang nicht schreiben – sie wirken old-fashioned und von den Theaterchefs her als bequeme Möglichkeit, für die es auch noch Geld gibt.) Einige wenige ragen heraus – neben der „Pest“ des DT etwa auch „Hydra“ (Texte von Heiner Müller) mit Sandra Hüller vom Schauspielhaus Bochum, wo die Streaming-Inszenierung nicht nur Einblicke gewährt, die im „Normalen“ nicht möglich sind, sondern auch neue Denkhorizonte aufmacht.

Hier ist in puncto Kreativität der Inszenierenden und Darstellenden noch Luft nach oben. Denn – auch diese Meinung war von den Theaterleuten in der Diskussion zu hören – das Streaming könnte auch nach dem Pandemie-Ende bleiben. Und ich finde, das wäre gar nicht so übel: Eine neue Form, neue kreative Ansätze, neue Mechanismen der Darstellung als komplementäre Inszenierungsart neben dem gewohnten Theater mit seiner Bühne und der „Vierten Wand“ (oder auch nicht). Und das gerade auch für einst herausragende Monologe wie das glanzvolle „Tagebuch eines Wahnsinnigen“ mit Samuel Finzi, Mirco Kreibichs „Caligula“ oder Philipp Hochmairs „Amerika“. Ein bisschen mehr neue Theaterform wagen – auf den Bühnen geht’s ja, warum nicht auch im Streaming?

gerfri - 16:18 @