26.10.2021

Ängste, Furcht und Vernunft

Die Virus-Angst geht um. Noch immer. Außergewöhnliche Maßnahmen müssen getroffen werden. Noch immer. Und noch immer schwingt die Frage mit: Wie können wir den Ängsten, die Viele haben, eigentlich entkommen?

Wer sich mit dem Thema „Angst“ befasst, landet direkt bei Sören Kierkegaard, dem depressiven dänischen Philosophen, und seinem 1844 erschienenen Buch „Der Begriff der Angst“. Seit ihm verstehen wir, dass Angst ein „Grundtatbestand unseres Lebens“ ist, wie er es genannt hat. Je weniger man etwas „im Griff“ hat, desto mehr Ängste entstehen, und das oft auch unbewusst. Das ist zweifellos bei etwas Neuartigem, wie beim Covid-19-Virus und seinen ständigen neuen Mutationen, der Fall. Keine Erfahrungen damit, keine Ahnung, wie es in den nächsten Monaten weitergehen kann.

Angst hat, das muss man zugeben, auch eine durchaus positive Komponente – sie ist in uns, weil sie uns in Gefahrensituationen vor Leichtsinn schützt. Angst ist jedoch prinzipiell ein schlechter Ratgeber, sie aktiviert nämlich unmittelbar ein Sensorium, das uns ein allzu einfaches Aktionsmuster vorgibt: Unser Stammhirn-Sensorium, das bei Gefahr nur Angriff oder Flucht oder Passivität kennt. Das aber sind Werkzeuge, mit denen unser Denken und Handeln nicht von Verstand und Vernunft, sondern vom diffusen Gefühl der Angst geleitet wird. Darüber kommen wir, zugegeben, nicht leicht hinweg, ist doch der Hirnstamm der älteste Teil unseres Gehirns, der alle lebenswichtigen Bereiche steuert. Und weil er bei den niedrigen Wirbeltieren, wie den Reptilien, fast die gesamte Hirnmasse ausmacht, nennt man ihn auch flapsig „Reptilienhirn“. Überwinden wir diesen bei uns nur kleinen Gehirnteil, sind wir imstande, mit Problemen oder Gefahren vernunftmäßig umzugehen.

Was also tun? Es fängt damit an, dass wir den Unterschied zwischen Angst und Furcht erkennen. Und da geht es nicht um psycho-philosophische Wortklauberei. Angst ist ein Grundgefühl, ist unspezifisch, nicht auf etwas Bestimmtes bezogen. Dagegen ist Furcht immer mit etwas ganz Konkretem verbunden. Vereinfacht gesagt: Man fürchtet sich „vor“ etwas, aber man „hat“ Angst.

Aus seinen Ängsten kommt man aber mit der Vernunft nicht heraus. Denn Gefühl und Verstand sind zweierlei, man kann das Problem der einen Ebene nicht mit Lösungen aus der anderen Ebene bekämpfen. Und folgt jemand dem „Reptilienhirn-Muster“ Passivität, so ist dieses „Totstellen“ die unbrauchbarste aller Varianten. Zu glauben, wenn ich die Decke über den Kopf ziehe, wird alles wieder gut, hat schon im Kinderzimmer nicht geklappt. Und aktuell: Zu denken „Ich lasse mich einfach nicht impfen“, also die Negation, das „Totstellen“, kann kein brauchbares Konzept in einer Pandemie sein, in der es immer wieder darum geht, nicht nur sich selbst zu schützen, sondern auch respektvoll mit den Mitmenschen umzugehen, ihnen nicht durch mein „Totstellen“ Gefahren aufzubürden.

Der Schlüssel lautet damit: Unsere Angst – jetzt etwa vor dem Coronavirus und/oder der Impfung – hinterfragen, in uns selbst forschen, dann kommen wir ganz schnell zu unseren realen Befürchtungen. Sind wir dort angelangt, wo wir unsere ganz spezifische Furcht lokalisieren können, dann erst sind wir in der Lage, vernunftmäßig die auf uns aus Medien und von Experten hereinprasselnden Informationen zu bewerten und für uns in die „richtige“ Ordnung zu stellen. Also es geht wieder einmal darum, den Verstand einzusetzen und eigenverantwortlich die Schlüsse daraus zu ziehen. Tue ich das, dann gehe ich über den Startreflex des Reptilienhirns hinaus und verwende die mir im Laufe der Evolution geschenkten zusätzlichen grauen Zellen, Hirnwindungen und Synapsen. Dann bin ich ein „Homo sapiens sapiens“.

gerfri - 08:00 @